Um 17.07 Uhr ist nur noch Gänsehaut
AUFSTIEGSGEFÜHLE
DONNERSTAG, 9.40 Uhr: âHurra, hurra, die Kasseler sind da!â Und zwar ganz schön viele. Und ganz schön laut. Mehr als 900 Fußballfans wollen ihren KSV mit dem Sonderzug zum entscheidenden Spiel nach Frankfurt begleiten. Der steht am Kasseler Hauptbahnhof auf Gleis 10. Zur gleichen Zeit wartet Günter Kratz, der KSV-Kultfan mit der langen Mähne und der noch längeren Fahne, in Wagen sechs ungeduldig auf die Abfahrt. âIch habe letzte Nacht kaum geschlafenâ, gibt der 47-Jährige zu.
Michael Kändler steht zu Hause gerade auf. Auch er hat nicht gut geschlafen. Nun plagen ihn Bauchschmerzen vor Aufregung. Er kann nichts essen, ist zu nervös. Er fährt nicht mit nach Frankfurt. Er weiß, warum: âDas machen die Nerven nicht mit.â Er, 40 Jahre alt und seit 24 Jahren KSV-Anhänger, war noch nie so aufgeregt wie heute.
10.03 Uhr: Der Zug rollt an. âFrankfurt, wir kommenâ, hallt es über den Bahnsteig. In den ersten vier Wagen stärken sich die VIPs mit Gebäckteilchen. âAchim, dreh mal das Radio leiserâ, sagt eine Frau.
10.33 Uhr: David hat ein Problem. Er muss mal. Doch die Toilette in Wagen sieben ist besetzt. Das Herz der Löwen schlägt in Wagen 13. Dort feiern die drei großen Fanclubs Löwenherzen, Red White Stars und Amigos Hessen Kassel.
11.30 Uhr: Mittagessen. Anastasia versorgt die VIPs mit Grüner Soße. In den beiden Party- und Thekenwagen gibtâs Bier. Und dazu Bier. Die Jungs der Naumburger Karnevalsgesellschaft sind Selbstversorger. âAhle Wurscht gehört dazuâ, sagt Matthias.
12.50 Uhr: Ankunft Frankfurt Ostbahnhof. âHurra, hurra, die Kasseler sind da!â Gänsehautatmosphäre. Unter Polizeischutz gehtâs zu Fuß ins Stadion. Keine Krawalle.
13.30 Uhr: Joeâs Garage auf der Friedrich-Ebert-Straße in Kassel füllt sich nach und nach mit KSV-Anhängern. Auch Michael Kändler trifft ein. Er bestellt sich sein erstes Bier. âWir gewinnen 2:1.â
14.30 Uhr: Wer in Frankfurt Durst oder ausnahmsweise Hunger hat, hat ein Problem. Eine Bier- und Würstchenbude für 3000 Kasseler Fans! Und ganze drei Dixi-Klos.
15.17 Uhr: âKSV, KSVâ, brüllen die Anhänger in Joeâs Garage. Sie stehen bis auf die Straße hinaus. Alle starren auf die Leinwand. Das Spiel der Spiele beginnt. Eine Kurve in Frankfurt trägt Rot und Weiß. Und singt. âHeimspiel in Frankfurt.â
16.05 Uhr: Halbzeit. Michael Kändler trinkt Bier Nummer fünf in Joeâs Garage. Er raucht eine Marlboro nach der anderen. âAber es geht mir besser. Ich glaube, wir gewinnen.â
16.21 Uhr: Thorsten Bauer trifft zum 0:1. Joeâs Garage schreit âJaaaaaaaaaaaaaaaa!â Im Chor: âEs gibt nur einen Thorsten Bauer.â Am Vatertag erinnert viel an die Aussage eines Radioreporters. Der sprach einst sinngemäß: âManchmal ist Fußball schöner als ein Orgasmus.â
17.07 Uhr: Das Spiel ist aus. Der KSV ist aufgestiegen. Die Gänsehaut ist wieder da. Und bleibt. âNiiie mehr Oberliiiga!â Da sind sich die Löwen-Fans in Frankfurt und Kassel einig.
Die Disko-Kugel in Joeâs Garage leuchtet. Das âWe are the Championsâ klingt laut in den Raum. Bier spritzt über die Menge, Papiermanschetten für Biergläser fliegen durch die Luft. Michael Kändler sagt: âEs ist traumhaft. Ich bin den Tränen nahe. Ich war immer dabei - an das hier erinnere ich mich bis zu meinem Tod.â
17.30 Uhr: Hupkonzert auf der Friedrich-Ebert-Straße. Der Fahrer eines Autos mit Frankfurter Kennzeichen fragt nach dem Weg. Ein Kasseler am Straßenrand gibt Auskunft. Wir sind ja nicht so.
18.50 Uhr: Frankfurt, Ostbahnhof, Rückfahrt. Trainer Matthias Hamann und seine Löwen sind auch im Zug. Abgekämpft, aber glücklich. So wie Günter Kratz und viele der 900 Fans.
20.45 Uhr: Fans und Spieler grölen Fußballlieder wie âFootball is coming homeâ und âYouâll never walk aloneâ. Die soundsovielte Luft.
21.55 Uhr: Kassel, Hauptbahnhof. Hunderte stehen am Bahnsteig und warten auf den Sonderzug. Es trötet; er kommt. Irgendwie erinnert die Szene an jene, die viele nur aus dem Film âDas Wunder von Bernâ kennen: Die Helden von Frankfurt kehren zurück. âHurra, hurra, die Kasseler sind da!â Der Fußball kommt nach Hause. Nach Kassel.
22.10 Uhr: Trainer Matthias Hamann dirigiert die Fans. Der Mann im knallroten Anzug - von seinen Spielern deshalb als Pornostar verhöhnt - steigt auf die Lok des Sonderzuges und schreit: âGebt mir ein H, gebt mir ein U, gebt mir ein M, gebt mir ein B, gebt mir ein A.â Und dann springen alle auf und singen: âHumba, humba, humba, tätärä!â Die Welt ist schön.
23 Uhr: Der Tag endet im Düsseldorfer Hof. Die Tischdecken sind weiß, die Servietten rot, und alle schunkeln. Trainer Hamann sagt: âDas heute war großartig.â Die Nacht wird lang. Für Spieler, Trainer und Fans. Auch für Michael Kändler.
FREITAG, 18.30 Uhr: Die Brille beschlägt im Lesesaal des Rathauses. Draußen heult der Himmel, und drinnen drängeln sich die Fans des Aufsteigers. Empfang der Stadt. Vor dem Rathaus stehen auch noch ein paar, es sind die ganz Harten, denen strömender Regen nichts auszumachen scheint. Die Sieger tragen sich ins Goldene Buch der Stadt ein. Thorsten Bauer, Oliver Adler und all die anderen Helden von Frankfurt. Als Geschenk bekommen sie Krawatten der Stadt - im neuen Design. Unter den Anhängern ist Herbert Stückrath. Er erzählt, dass 2004 seine Mutter verstorben ist, kurze Zeit später seine Lebensgefährtin. âIch war immer traurig. Aber jetzt bin ich wieder ein glücklicher Mensch.â
18.40 Uhr: Die Mannschaft des KSV Hessen zeigt sich auf dem Rathausbalkon. Oberbürgermeister Bertram Hilgen sagt später: âBesser, es regnet, und man gewinnt, als es scheint die Sonne, und man verliert.â
<i>Von Sascha Herrmann und Florian Hagemann
HNA-Redaktion
Samstag, 27. Mai 2006</i>
Veröffentlicht: 27.05.2006